Wenn die Hüllen fallen

Wenn die Hüllen fallen - zum Beispiel am jetzigen Strand am Oldenstädter See oder auf Teneriffa oder in einem Strip-Lokal dann guckt der Menschheit männlicher Teil hin, weil es Nacktes gibt, das enthüllt wird. Nicht so bei Christos kunstvoller Verhüllung. Zum Beispiel gegenwärtig am Reichstagsgebäude in Berlin zu bestaunen. Da nämlich diente das Fallen der Kunststoff-Hüllen nicht der Offenbarung von Nacktem, sondern dem Gegenteil: Das Fallen der Hüllen bedeckt das bisher Nackte. Gestern Nacht nun kam Alexander die zündende Idee, als es um Christos Kunst in Berlin ging und die Diskussion heiß wurde. Einmal, weil es wirklich Sommer, zum anderen, weil der Kunstbegriff so schwierig ist: Wieso soll eigentlich Herr Hundertwasser, so Alexander, unseren Uelzener Bahnhof mittels Farbe und Formen salonfähig machen - fähig für den Salon, den Niedersachsen zur Expo 2000 eröffnet? Wieso keine Verhüllung durch Christo? Wenn am Uelzener Bahnhofsgebäude Christos Hüllen fallen könnten - dann würden mehrere Probleme mit diesen Hüllen fallen: Zum einen wären wir angemessen vertreten auf der Expo 2000. Denn im Blick auf die allgemeine hannoversche Selbstdarstellungsfreude könnte uns gar nichts Besseres passieren, als daß wir uns bzw. den Bahnhof verhüllen. Zweitens würde der unter Denkmalschutz stehende Bahnhof in seinem unverwechselbaren Stil unter den Hüllen erhalten bleiben. Die Kenner wirklicher Bahnhofskunst wissen, daß unser Bahnhof Stil hat. Einen, um den uns andere Bahnhofsnutzer beneiden. Wir also, wir Verehrer unseres Bahnhofs, könnten dank Christos Verhüllung unserem Bahnhof quasi unter den Rock kriechen, während die Kenner aktueller Kunst, die in Gottes Namen bzw. Christos Namen meinetwegen die Welt ver- ändern wollen, draußen bleiben. Für dieses Rein und Raus, Unterdurch und Nebenher, das die Reisenden dann auf sich nehmen müssten, die eine Fahrkarte oder Zeitung kaufen möchten, und für die Bediensteten inner- halb unseres Kunstbahnhofs also - da könnte ein Happening- Künstler wie Reinhard Schamuhn eine Daueraktion draus machen, die uns nochmals in die Schlagzeilen bringt. Unser Kunstbahnhof würde zum Kult werden können. Außerdem ist das Tageshonorar von Christo niedriger als das von Hundertwasser. Ich weiß, was ich sage. Uelzens Bahnhofsverhüllung könnte Kreise ziehen: Zum Beispiel bietet sich das Ebstorfer Rathaus an. Oder das Karstadt-Gebäude in Celle. Das sind so Gebäude, für die ich Christos Verhüllung gerne in Kauf nehmen würde, um ihr sonstiges nacktes Fleisch nicht sehen zu müssen. Natürlich würde das dann keine Kunst mehr sein. Diese Art Verhüllung hätte mehr die Funktion jenes Druckes von einem Ölgemälde Pieter Breughels d. Älteren, das wir zwecks Verdeckung des jeweils jüngsten Loches in der Wand dahinter nutzen. Eins wurde klar heute Nacht: Allgemeine Kunstdiskussion ist ebenso endlos wie die Diskusion um speziell fallende Hüllen.

4. Juli 1995